von George Pennington

pictafelnAls in den 60er Jahren die Beatles ostwärts zogen, um bei einem indischen Guru zu meditieren, als in den Jahren danach zigtausende junger Europäer in ihrem Sog gleichfalls nach Osten pilgerten, um sich in Japan mit der ZEN-Meditation oder in Indien mit der Mantra- oder Vipassana-Meditation zu beschäftigen, da fragte ich mich: "Warum gibt es so etwas nicht auch bei uns in Europa?".

Inzwischen weiß ich die Antwort auf diese Frage: Es gibt auch bei uns eine bodenständige Meditations-Tradition, die in ihrer Art und Wirkung den anderen großen Schulen durchaus ebenbürtig ist. Aber in Europa gab es auch Verfolgungen, von denen andere Länder verschont blieben. Bei uns wurden alle Wege, die nicht über Rom zum Heil führten, von der Inquisition gnadenlos ausgemerzt. Menschen, die ihren eigenen spirituellen Weg gingen, wurden verfolgt, gefoltert und verbrannt. In Lappland beispielsweise wurde im Zuge der Christianisierung der bloße Besitz einer Trommel (Schamanismusverdacht) unter Todesstrafe gestellt. Ist es da ein Wunder, wenn diejenigen, die tatsächlich eine wertvolle und lebendige gnostische Tradition bewahren wollten, in den Untergrund gingen?

Genau das ist geschehen. Während in der Amtskirche alle Möglichkeiten zu eigenständiger meditativer Erfahrung radikal beseitigt wurden (auch innerhalb der Kirche: Novenen und Litaneien sind rar geworden), bewahrten sich Zigeuner in Frankreich im Verborgenen die meditative Tradition der Tafeln von Chartres, mit der sie spirituell autark blieben. Sie bezeichnen diese Form der Meditation bis heute als Garten der Einweihung.

pictafelgarten klAls ich diese Meditation in den späten 70er Jahren entdeckte, war ich in der glücklichen Lage, mich sehr intensiv mit ihr befassen zu können: Ich verbrachte jede freie Minute mit den Tafeln von Chartres. Sie veränderten mein Leben radikal. Das heißt: nicht die Tafeln veränderten mein Leben, sondern das, was ich bei der meditativen Betrachtung erlebte und erfuhr, gab mir Anlass, meine Lebensweichen neu zu stellen. Die Tafeln wirkten wie ein Spiegel, der mir mein Denken und Fühlen, meine ganze Lebenssituation mit einer mir bis dahin unbekannten Klarheit vor Augen führte. Sie lehrten mich - oft auch auf schmerzliche Weise -, hinter das Offensichtliche zu sehen, sie lehrten mich das Schweigen, das Zuhören, das Wohlwollen mit mir selber und mit anderen - und nicht zuletzt die Kunst, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind.

Nachdem ich unter dem ersten Eindruck der Begegnung mit den Tafeln das "Kleine Handbuch für Glasperlenspieler" geschrieben hatte (in einer einzigen Nacht), ließ ich mir 15 Jahre Zeit, um ein richtiges Handbuch über diesen Weg zu schreiben (Die Tafeln von Chartres, Walter Verlag 1994, heute bei Patmos als Taschenbuch erhältlich). In all den Jahren lehrte ich andere in Seminaren den Gebrauch der Tafeln - und diese Menschen bereicherten wiederum meine eigene Erfahrung. Der Gedanke, diesen Schatz nicht für mich behalten zu dürfen, war ständig präsent. Ebenso präsent war aber auch die Verantwortung, ihn nicht leichtfertig oder auf populistische Weise bekannt zu machen, sondern auf eine Art, die dem Respekt, den ich für die Tafeln als Instrument der Geistesschulung habe, gerecht wird.

Als das Buch 1994 erschien, hörte ich auf, den Gebrauch der Tafeln in Seminaren zu unterrichten. Im Buch findet sich eine detaillierte Anleitung, sowohl zum "wie" als auch zum "was". Sie sollte denen, die sich dafür interessieren, genügen. (Als ich begann, die Tafeln zu erforschen, hatte ich keinerlei Anleitung.) Immer wieder erreichen mich Anrufe und Emails von mir gänzlich unbekannten Menschen, die mir erzählen, daß sie die Tafeln von Chartres für sich entdeckt hätten. Die meisten von Ihnen sitzen täglich wenigstens eine halbe Stunde vor den Tafeln, viele länger. Das sind keine "esoterischen Spinner" (die gibt es natürlich auch), sondern ganz normale Menschen aus allen sozialen Schichten und Berufszweigen, die in den Tafeln eine Möglichkeit gefunden haben, sich selbst und die Welt mit neuen Augen zu betrachten. Ich freue mich darüber - und hoffe, daß diese wertvolle Möglichkeit sich weiter herumspricht.

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