George Pennington:

Zwei Bücher über die spirituelle Dimension des "magischen Sehens"

Wer kennt sie nicht, die computererzeugten Wunderwerke, aus deren wirren Farbmustern bei richtiger Betrachtungsweise allerlei verblüffende Gestalten auftauchen, die zuvor beim besten Willen nicht auszumachen waren? Computerstereogramme sind die jüngste Erscheinungsform einer Art zu schauen, bei der die Augen mit unterschiedlichen Informationen gefüttert werden, aus denen das Gehirn dann etwas macht, was zuvor nicht sichtbar war.

Diese Art der Betrachtung hat eine lange Geschichte. Nicht nur Salvador Dali hat Bilder gemalt, die paarweise übereinandergeschielt eine dreidimensionale Ansicht ergeben, etwa der Kreuzigungsszene. Auch von René Magritte kenne ich etliche Gemälde, die schielend betrachtet werden müssen, um dem Betrachter ihr Geheimnis preiszugeben. Die vom Himmel regnenden Männer mit Schirm und Melone (Galconde, 1953) eignen sich zur schielenden Betrachtung ebenso wie seine frühen Werke Le gout de l'invisible (1927), La fin des contemplations (1927), Le double secret (1927) und Le palais des rideaux (1929). Die Namen, die er diesen Bildern gab, lassen die Faszination erahnen, die er in dieser seltsamen Art zu schauen fand.

Diese Faszination geht aber noch viel weiter zurück und ist auch nicht auf den abendländischen Kulturraum beschränkt, auch wenn bei uns die WahrsagerInnen schon sehr früh das bewußtseinverändernde Potential von Kristallkugeln und ähnlichen visuellen Hilfen (John Dee bediente sich eines Kohlekristalls) zu nutzen wußten. Sie betrachteten den Kristall beidäugig aus nächster Nähe, wodurch sich, der Parallaxenverschiebung wegen, jedem Auge eine etwas andere Ansicht bot. Das führte im Gehirn zu einer gewissen Desorientieerung, die sich zur Trance-Induktion bzw. hellseherisch nutzen ließ. Daß dieses Verfahren tatsächlich funktioniert, kann jeder halbwegs begabte Mensch leicht im Selbstversuch verifizieren.

Bei Carlos Castaneda finden wir eine Passage, in der er die visuelle Fusion zweier verschiedener Gegenstände (bei ihm sind es Steine) genau beschreibt. Er sagt dazu: "Ich landete in einer Welt, die jenseits alles Vertrauten und Vorstellbaren lag" (Reise nach Ixtlan, Fischer TB, S. 188). Diese Welt "jenseits alles Vertrauten und Vorstellbaren" tut sich auch denen auf, die sich einer alten, durch französische Zigeuner im Geheimen überlieferten Meditationstechnik bedienen, nämlich der Tafeln von Chartres. Dabei handelt es sich um farbige geometrische Formen, die so ausgelegt werden, daß man sie schielend fusionieren kann, ähnlich wie moderne Computerstereogramme. Die beiden Augen bekommen dabei dieselben Formen jeweils in einer anderen Farbe (rot und blau) zu sehen, was im Gehirn genau zu jener Situation führt, die Castaneda so treffend beschreibt. Im Gegensatz zu den Stereogrammen erscheinen hier jedoch keine Herzchen oder Dinosaurier. Die Tafeln wirken wie ein leerer Spiegel, in den der Meditierende alles mögliche hineinprojizieren kann, d. h. er wird letztlich mit sich selber konfrontiert. Und das mit einer ungewöhnlichen Klarheit, weil sein Gehirn durch die widersprüchlichen Farbinformationen, die ihm die Augen liefern, in einen besonders angeregten Wachzustand versetzt wird.

Die Wirkung der Farben Rot und Blau zur visuellen Aktivierung des Unbewußten scheint auch in anderen Kulturkreisen bekannt zu sein. Nachdem ich in den 70er Jahren begonnen hatte, die Meditation mit den Tafeln von Chartres zu erforschen, fand ich in Marrakech eine sehr kunstvoll gefertigte Umhänge-Tasche aus Leder, die früher einem Berber aus dem Rif-Gebirge gehört hatte. Auf der Außenseite sind nebeneinander sieben Felder in das Leder eingearbeitet, an denen auf einer weißen Grundierung noch Reste der ursprünglichen Farben zu erkennen sind: abwechselnd rot und blau. Diese Felder sind genau flächengleich und so nebeneinander angeordnet, daß sie ohne Mühe übereinander geschielt werden können, genau wie die Tafeln von Chartres. Die Tasche wurde also wahrscheinlich als eine Art Meditations-Necessaire für unterwegs verwendet.

Der Händler, bei dem ich diese Tasche kaufte, war ein Sufi und von Beruf Goldschmied. Er stellte Amulette und ähnliche Dinge her und wußte über die spirituellen und esoterischen Traditionen Marokkos gut Bescheid. Als ich ihn fragte, was es denn mit den sieben farbigen Formen auf der Tasche für eine Bewandnis habe, antwortete er: "Mais vous ne savez pas? C'est la porte du paradis!" Das Tor zum Paradies also. Mehr wollte er darüber nicht sagen. Und mehr brauchte er mir auch gar nicht zu sagen. Ich kannte das Tor, von dem er sprach, aus meiner Erfahrung mit den Tafeln von Chartres.

Aus Asien ist uns das rot-blaue YIN - YANG Mandala bekannt. Wer es richtig zu betrachten weiß, wird keine Schwierigkeit haben, das Symbol des "Dritten Auges" darin zu erkennen. Auch in diesem Symbol öffnen sich dem Betrachter - wenn er seine Betrachtung im rechten Geiste und als Meditation betreibt - die Pforten der Wahrnehmung (Huxley), bzw. " la porte du paradis".

Eine ähnliche Wirkung haben die "Fliegenden Teppiche" des Orients. Nein, die Geschichte vom Fliegenden Teppich ist kein Märchen. Es gibt sie tatsächlich, wovon sich jeder leicht durch persönlichen Augenschein bei einem Teppichhändler überzeugen kann. Die floralen oder geometrischen Muster mancher Teppiche sind so angeordnet, daß man sie ohne große Mühe übereinanderschielen kann, wie die Tafeln von Chartres, Castaneda's Steinchen oder die Stereogramme aus dem Computer. Bei modernen Teppichen ist das Ergebnis meistens nicht sonderlich aufregend. Aber es gibt alte Teppiche, die erst durch diese Art der Betrachtung ihr Geheimnis preisgeben. Die Ornamente scheinen dann auf mehreren Ebenen angeordnet zu sein, zwischen denen das Auge endlos umherwandern kann. In solchen Teppichen tun sich Welten auf, die den Betrachter regelrecht verzaubern. (Hier ein Beispiel, das auch in der gebundenen Ausgabe des Buches "Die Tafeln von Chartres" farbig abgebildet ist.)

Aus diesen vielen Beispielen wird deutlich, daß das Magische Sehen, das uns heute in Form computergenerierter Bilder begegnet, eine lange Geschichte hat. Die Meditation mit den Tafeln von Chartres eröffnet dem ernsthaften Sucher gewissermaßen die spirituelle Dimension des magischen Sehens. Anstelle des eher kurzlebigen AHA-Effektes der computerisierten Bilder durchlebt der Betrachter der Tafeln eine hohe Schule der Sinne und des Geistes, die ihn über Monate und Jahre zu immer feineren und tieferen Ebenen der Wahrnehmung führt, bis zu einem Zustand reinen Seins (ohne Tun), der dem Samadhi des Zen bzw. dem Yoga des Patanjali entspricht.

Der ersten Phase dieses Weges, dem Verfeinern der visuellen Wahrnehmung, widmet sich das "Kleine Handbuch für Glasperlenspieler", das bei Junfermann unter dem Namen "Der Weg über die Augen" neu aufgelegt wurde. In einer Reihe einfacher Übungen wird dort der Leser Schritt für Schritt in diesen ungewöhnlichen Gebrauch seiner Augen eingeführt. Die beschriebenen Übungen entstammen allesamt der Schule der Tafeln von Chartres.

Das beim Walter Verlag erschienene Buch Buch "Die Tafeln von Chartres" hingegen ist ein richtiges Meditations-Handbuch. Neben den Anleitungen zu Herstellung und Gebrauch der Tafeln und der Beschreibung der psychischen Erfahrungen, die man mit den Tafeln machen kann, ist vor allem der kulturhistorische Überblick interessant. Die drei Tafeln, die zur Meditation verwendet werden, entsprechen nämlich den legendären drei Tafeln des Heiligen Gral, von denen die erste rechteckig war (die Abendmahlstafel), die zweite quadratisch (eingerichtet von Josef von Arimathäa) und die dritte rund (die "runde Tafel" bzw. Tafelrunde, um die König Artus seine Ritter versammelte). Diese Tafeln, deren Tradition von der Kirche hartnäckig ignoriert wurde, finden sich in der Architektur großer gotischer Kathedralen an prominenter Stelle wieder, im Grundriss der Kathedrale von Chartres ebenso wie im Aufriss von Notre Dame de Lausanne. Den Baumeistern ist es damals gelungen, der Wachsamkeit der Inquisition zum Trotz, dem Heilsweg der Gralstafeln in den Kathedralen ein zeitloses Denkmal zu setzen, wohl in der Hoffnung, daß spätere, aufgeklärtere Generationen es verstehen würden, die Zeichen zu lesen. Den Zigeunern ist es zu verdanken, daß das dazugehörige Know-How erhalten blieb. Dank ihrer mobile Lebensweise waren sie wohl eher in der Lage, den Inquisitoren auszuweichen, als die Sesshaften. Im Geheimen haben sie das Wissen um den meditativen Gebrauch der Gralstafeln von Generation zu Generation weitergegeben.

Es ist schon eigenartig: Wer sich im Westen für Meditation interessierte, mußte die dazu geeigneten Techniken bisher aus dem fernen Osten importieren. Kaum jemand wußte, daß wir hier in Europa über eine Meditationstechnik verfügen, deren lebendige Tradition zwar im Mittelalter verloren ging, die aber als Weg inneren Lernens den anderen großen Schulen der Meditation durchaus ebenbürtig ist. Nun ist es an uns, diese alte europäische Tradition wieder zu neuem Leben zu erwecken und den Weg zu gehen, den sie uns weist.

"Die Tafeln von Chartres", Walter Verlag bzw. Patmos TB, 1994, ist im Buchhandel erhältlich.
Das "Kleine Handbuch für Glasperlenspieler", Irisiana 1981 bzw. Hugendubel 1986, ist ebenso wie die Ausgabe des Junfermann Verlages ("Der Weg über die Augen", 1994) nur noch im Antiquariat erhältlich.